„Moin liebe Nachbarinnen,
liebe Nachbarn,
liebe Gäste,
ich habe heute die Ehre zur Eröffnung des Münzviertelarchivs einige Worte an Sie, an euch liebe Gäste, zu richten. Ein Archiv also. Ein Archiv… Was ist eigentlich ein Archiv? Ist klar, alle haben jetzt eine bestimmte Vorstellung im Kopf. Wie bringen wir in dieser Vorstellung aber auch noch das Münzviertel und Günter Westphal unter? Vielleicht bringt uns folgende Frage weiter: was passiert in einem Archiv? Ein Annäherungsversuch.
Die allgemein mehr oder minder gültige Definition dessen besagt: „bewerten, erschließen, sichern“ von Dokumenten, Akten, Fotos, Briefen etc.
Ist das schon eine umfassende Beschreibung dessen, was wir hier sehen? Erkennen wir in dieser Definition Günters Werk?
Nein, natürlich nicht. Günter ist ja kein Archivar. Nein Günter ist Künstler. Dem „bewerten, erschließen, sichern“ ist einiges hinzuzufügen. Unzulänglich wäre es einfach einige Verben zu ergänzen. Nein mindestens ein ganzes Gedankengebilde ist meines Erachtens hinzuzufügen. Für mich sind hier die Stichworte Ethik, Prozess und Intervention elementar. Sie sind nicht unabhängig voneinander denkbar. Bei Günter gehören (spielen) sie zusammen.
Wie meine ich das?
Geschichte wiederholt sich nicht – sagt Marx. Klar – identisches sicher nicht. Aber bestimmte Erfahrungen sicherlich schon – ein Blick in dieses Archiv offenbart dies. Es ist eben wichtig sich Fragen zu stellen. Fragen in Bezug auf diesen Ort – das Münzviertel. Fragen aus der Perspektive unseres Stadtteils.
Günter macht genau das. Und er macht das unablässig. Doch wie schafft er es die richtigen Fragen zu stellen? Die Antwort darauf erscheint mir zentral, um dieses Archiv verstehen zu können.
Hier ist nichts „alt“. Nichts ist abgeschlossen. Es gibt keinen Schlusspunkt. So wie ich Günter kennenlernen durfte, versteht er die Welt nicht als Aneinanderfolge von Ereignissen, wie uns die Geschichte gerne weis machen will. Erst kam dieses und jenes Reich, dann kam dieser und jene Herrscher, dann kam diese und jene Revolution.
Nein – Die Welt ist prozessual aufzufassen. Und es gibt keine abgeschlossenen Sphären. Rückgriffe in die Vergangenheit, Verknüpfungen in der Gegenwart, Ausblicke auf die Zukunft – nicht als abgeschlossene, für sich stehende Geschichten, sondern in einem gesamtheitlichen Verständnis: Alles hängt zusammen. Die richtigen Fragen stellt er, weil er diese Verbindungen wie selbstverständlich knüpft, die andere nicht sehen können. Die einzigen Klammern (die ich bisher erkennen konnte) sind der Ort und „seine“ Lesart.
Seine Lesart?
Im engeren Sinne ist das falsch. Es würde seiner Weltsicht vollkommen widersprechen. Seine Lesart ist die kollektive Ethik dieses Viertels, die sich wiederum in ständiger Aushandlung über ihren Inhalt befindet. Es ist also unsere Lesart. Aber was ist das? Was kann das sein? Vielleicht einige Beispiele – die selbstverständlich mit einer Frage beginnen:
Was haben Frau Bella Spanier und Frau Recha Lübke mit Werkhäuslern zu tun? Was haben Frau Spanier und Frau Lübke mit Obdachlosen zu tun?
Beide unterrichteten hier vor Ort in der ehemaligen Volksschule für Mädchen. Beide wurden 1933 nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten* wegen ihres jüdischen Glaubens aus dem Schuldienst entlassen. Frau Spanier sofort 1933 nach der Machtergreifung und Frau Lübke 1934: Denunziation, Gelber Stern, Deportation. Dieser Mechanismus ist bekannt und wird nie wieder passieren! Dieses Kapitel der Geschichte ist ja nun abgeschlossen! Wer so denkt kann mit diesem Archiv nicht arbeiten. Zur Erinnerung nichts ist „alt“ oder abgeschlossen oder zu Ende.
Die Meldeportale der AFD existieren ja bereits. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit bis auf eine Kennzeichnung die Verschleppung folgt!
Jetzt könnte angebracht werden: Was haben denn die AFD-Fuzzis mit dem Münzviertel im Allgemeinen und mit dem Archiv im Speziellen zu tun? Nach Günters Lesart – nach unserer Lesart – sehr viel: Für uns gibt es eine direkte Linie von genannten Meldeportalen zu den Opfern im Mittelmeer. Und wieder zurück hier in unser Viertel:
Die Menschen verachtende Rassentheorie wurde 1933 von den Nationalsozialisten als Rassenlehre zum allgemeinen Unterrichtsfach erklärt. Und die ehemaligen Lehrerkollegien bzw. Kollegen von Frau Spanier und Frau Lübke, die diese Lehre unterrichteten, wussten warum ihre ehemaligen jüdischen Kolleginnen aus dem Schuldienst entlassen worden waren. Echt zynisch, wenn man bedenkt, dass die Zukunft ihrer Kolleginnen der sichere Tod im KZ war.
Im selben Viertel, in denselben Räumen sind heute wieder Menschen anzutreffen, die zunehmend entmenschlicht werden. Manch einem unserer Werkhäusler** wird die Menschlichkeit abgesprochen, wenn beispielsweise ein Herr Salvini Überlebenden im Mittelmeer abfällig als Menschenfleisch bezeichnet und Rettungsbooten die Rettung verweigert. Unsere Nachbarn waren in diesen Booten!
Wenn sich unser Innenminister positiv zu einem Mann wie Herrn Orban verhält, dann hat das etwas zu tun mit diesem Viertel. Ein Gesetz, wie es Orban kürzlich erlassen hat, nach dem Obdachlosen der Schlafplatz im freien verwehrt wird, hat mit diesem Viertel eindeutig zu tun. Unsere Nachbarn sind oft obdachlos. Auch hier werden unsere Nachbarn wieder marginalisiert und entrechtet. Obdachlosen wird damit ihre Obdachlosigkeit abgesprochen! Krass! Ok ist ja aber weit weg – Ungarn – Italien? Nun ein Blick in das Archiv lässt durchaus eine andere Sichtweise zu. Auch hier im Münzviertel wird den Menschen ihre Obdachlosigkeit abgesprochen. Auch hier wird der Druck auf die Schwachen der Gesellschaft ständig erhöht: Nur ein Beispiel: Vorletztes Jahr war das Winternotprogramm hier im Münzviertel nur für Deutsche geöffnet. Und heute in Lokstedt wiederum.
Es ist wichtig zu wissen, dass es hier in der Spaldingstraße eine der größten Außenstellen des KZ Neuengamme gab. Es ist auch wichtig zu merken, dass es nicht vorbei ist: Nur so kann man verstehen wie rechte Kulturen durchgesetzt werden. Und auch hier gibt es eine direkte Linie von der Vergangenheit über das Münzviertel in die Realität. Das Zusammenferchen schuldloser Menschen nur aufgrund ihrer Herkunft – oder besser Nicht-Herkunft. Vielleicht müssen die Menschen in Ankerzentren nicht, wie hier in Hammerbrook die KZ-Häftlinge, die Leichenteile der Zerbombten herausholen. Vielleicht müssen sie auch nicht hungern. Vielleicht werden sie auch nicht sterben, bei der ungesicherten Arbeit im Schutthaufen deutscher Angriffskriege. Oder sollte ich besser sagen: noch nicht?
Das Archiv hilft uns diese Themen handhabbar machen – einzuordnen. Aufzuzeigen, dass sich nicht nur die Geschichte nicht wiederholen muss, wenn wir die Zeichen der Zeit entziffern, sondern auch die Erfahrungen andere sein können, wenn wir die Verknüpfungen zulassen und im hier und jetzt verorte. Das kann es aber nur, weil unsere Lesart eine Ethik hervorgebracht hat, die auf 16 Jahre gemeinwohlorientierte Stadtteilarbeit im Münzviertel zurückgreifen kann.
Und hier findet man sie als Gesamtheit des Archivs: Die Identität des Münzviertels. Identität durch unsere – gemeinsamen – Erfahrungen. Erfahrungen von heute, von gestern, von morgen. Das Münzviertelarchiv dokumentiert unser kollektives Gedächtnis – aber nur für den Moment. Es ist temporäre Fixierung. Hier findet sich unsere kollektive, kulturelle Identität. Denn jedes Bild, jede Email, jeder Brief, jedes Dokument zeugt davon wie wir uns die Gesellschaft vorstellen. Es zeugt davon wo wir uns einmischen. Es zeugt davon wo wir Dinge nicht hinnehmen. Es zeigt aber auch was wir wollen. Es zeugt von unserem Wissen von der Kraft der Solidarität. Das Archiv sagt: nichts ist alternativlos. Wir wissen: Unsere Gesellschaft baut auf Menschlichkeit – und wir wissen aus eigener Erfahrung – sie können es hier förmlich fassen – Das geht ziemlich gut!
Dieser Geist durchzieht das Archiv. Er durchzieht es, weil es unsere Praxis seit weit mehr als 16 Jahren hier ist. Und das ist natürlich nicht zuletzt Günters Verdienst. Denn Ich erwähnte es eingangs: Er ist ja kein Archivar, sondern Künstler!
Bei ihm liegt der Grundgedanke von Freiheit nicht begrenzt in der Freiheit des anderen, sondern begründet in dessen! Hierin ist der Kunstbegriff begründet. Die Kunst schützt das Subjekt. Sie schützt die Freiheit des Subjekts. Wer die Kunst abschafft, schafft das Subjekt ab. Sicher – es ist noch da – körperlich. Aber entmündigt, blind, ignorant, hoheitsgläubig. Deshalb kann Kunst nicht objektiv sein! Deshalb darf Kunst nicht objektiv sein! Deshalb geht es bei diesem Archiv eben nicht nur um „bewerten, erschließen, sichern“. Günter mischt sich ein, er produziert Geschichte. Er produziert dessen Dokumentation. Geschichte wird gemacht! Und so verhält es sich auch mit dem Archiv. Das Archiv ist nicht einfach da. Es wird auch nicht einfach gepflegt. Hier geht es nicht einfach nur um das „bewerten, erschließen und sichern.“ Das Archiv wird gemacht!“
Maximilian David Müller Kunstlabor naher Gegenden (KuNaGe) e.V.
* „1933: Das Jahr der Machtergreifung – Ein Überblick“: https://www.historeo.de/hintergrund/1933-das-jahr-der-machtergreifung
** Werkhaus Münzviertel: http://www.werkhaus-muenzviertel.de
s. weiter: Einladung: „Das Münzviertel Archiv“ Galerie Renate Kammer 7.12.2017 https://www.muenzviertel.de/?p=5069
s. ebenfalls: Bilderbogen: Eröffnung „Das Münzviertel Archiv“
7.12.17 Galerie Renate Kammer
https://www.muenzviertel.de/bilderbogen-eroeffnung-das-muenzviertel-archiv-7-12-17-galerie-renate-kammer/