Heimatkunde: Brockes, Blumen, Poesie

„Nicht nur der
Himmel Raum,
Nicht nur der
Sonnen Schein,
Nicht der
Planeten Größ‘ allein:
Ein Stäubchen
ist bewundernswert.”
B.H. Brockes

Diese lyrischen Zeilen schrieb vor 300 Jahren der Hamburger Senator Barthold Hinrich Brockes in seinem 1. Band der Gedichtsammlung “Irdisches Vergnügen in Gott”. 300 Jahre sind zwar eine ganze Menge Zeit und trotzdem erscheinen diese Zeilen heute im Zeitfenster des allgegenwärtigen Globalen als äußerst zeitgemäß. B.H. Brockes damalige Wertschätzung des unscheinbaren Kleinen gegenüber dem allmächtigen Großen ist meines Erachtens heute wiederum topaktuell. Entworfen und niedergeschrieben hat B.H. Brockes seine Lyrik in unserer unmittelbaren Nachbarschaft in seinem Gartenhaus “Der Roß” oben auf dem Geestrücken Besenbinderhof. Anfang des 18. Jahrhunderts lag dieser Geestrücken noch außerhalb der Stadtmauern und die Hamburger nannten diesen Landstrich liebevoll “Auf dem Garten”.


Hammerbrook 1825

Der Landstrich voller Gärten und großen Baumalleen begrenzte sich nicht nur auf den Besenbinderhof, sondern umfasste den gesamten Geestabhang bist weit östlich nach dem Dorf Hamm hinein. In Besitz genommen wurde der Landstrich durch die reichen Bürger der Stadt. Hier schufen sie als Ausgleich für die beengten Wohnverhältnisse innerhalb der Stadtmauern prächtige Landsitze und großzügige Gartenanlagen. “Die Stiegen”, wie die einzelnen Gärten genannt wurden, waren nicht sehr breit aber ziemlich langgestreckt. Sie begannen oben auf dem Geestrücken und reichten bis weit nach unten in den Hammerbrook hinein. Unser heutige Betonwüste Münzplatz war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine pure Gartenlandschaft so weit das Auge reichte.

Das Erscheinungsjahr der Gedichtsammlung 1721 lag mittendrin in der Epoche der Aufklärung. Diese Zeitrechnung zwischen der Englischen Revolution (1688) und der Französischen Revolution (1789) war eine Zeit der geistigen und machtpolitischen Umbrüche. Das Neue bekämpfte das Alte und das Alte bekämpfte das Neue. Die einen beharrten auf dem Status Q des von Gottgegebenem und die anderen setzten auf die Fähigkeit des Selbstdenkens, auf die Befreiung des Individuums aus Unmündigkeit und Bevormundung. Auch Hamburg blieb von diesen Unruhen nicht verschont. Die Erbgesessene Bürgerschaft der fünf lutherischen Kirchspiele (Oberalten) und der Rat der Stadt (Senat) droschen mit aller Kraft gegeneinander und aufeinander ein. Keine Gruppierung gewann die Oberhand. Es herrschte eine anarchistische Selbstblockade, die erst durch die äußere Intervention des katholischen Kaisers im fernen Wien beseitigt werden konnte. Zwischen 1708 – 1712 besetzten kaiserliche Truppen bis zur Durchsetzung einer neuen Hamburgischen Verfassung die Stadt.

1720 wurde der graduierte Jurist und Lyriker B.H. Brockes als 40-jähriger auf Lebenszeit in den Hamburger Senat berufen. B.H. Brockes war ein Aufklärer. Er war hochgebildet, sprach fließend Lateinisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Englisch, Niederländisch, spielte Cembalo und Laute, zeichnete hervorragend und war ein ausgewiesener Kenner und Liebhaber der Malerei. Doch sein eigentliches Feld war die Lyrik. Sein poetischer Ruhm reichte weit über die Grenzen der Hansestadt hinaus. Der erste Band des “Irdisches Vergnügen in Gott” erreichte innerhalb von zwanzig Jahren sieben Auflagen. Brockes realistische und detailgetreue Lyrik, frei von aller Symbolik und Metaebenen traf den revolutionären Nerv der damaligen Zeit. Johann Sebastian Bach, Georg Friedel Händel und insbesondere sein Hamburger Zeitgenosse und engster Freund Georg Philipp Telemann vertonten seine rhythmischen und sprachgewandten Texte.

Inspirationsquelle seiner dichterischen Arbeit war der heiß geliebte „Roß“. Das sommerliche Landhaus (abgerissen 1908) lag direkt am Besenbinderhof (heute Besenbinderhof 52-54) und die prächtige im streng geometrischen Gartenstil Frankreichs gestaltet Gartenanlage war ausgestattet mit unzähligen Terrassen, Statuen, Fischteichen, Springbrunnen und mannshohen Hecken. In seinem ebenfalls berühmten 2. Band „Irdisches Vergnügen in Gott” (1727) beschreibt er über ganze 14 Seiten den Garten voller Blumenpracht und Obstplantagen. Es ist ein Meisterstück deutscher Lyrik. Hier geht es um das Unmittelbare, um das sinnliche Empfinden, um das Tasten, das Schauen, das Riechen und das Hören. Brockes Poesie holte die göttliche Offenbarung aus den unbegrenzten Weiten des Himmels herunter und verankerte diese fest in die irdische Schönheit der Natur.

Doch Brockes Aufenthalte im Garten dienten nicht nur der schöpferischen Arbeit, sondern hier wurde auch mächtig gefeiert, getanzt, musiziert und gelacht. An manchen milden Sommerabend klangen die musikalischen Auftritte des Freundes Georg Philipp Telemann bis weit in den Hammerbrook hinein. Aber dieses heitere Tanzen und Musizieren war nur das eine. Das andere bestand aus knallharter politischer Arbeit. Hier im Garten und oben im geräumigen Sommerhaus saß er des Öfteren mit seinen politischen Mitstreitern zusammen und diskutieren, entwarfen Strategien und handelte. 1723 gründete die politischen Freunde die Patriotische Gesellschaft und veröffentlichten 1724 die anonyme Zeitschrift „Der Patriot“. Dieses aufklärerische Blatt erschien 3 Jahre lang wöchentlich und war eine Kampfansage an die reaktionären Gegner, an deren vorderster Front die lutherische Orthodoxie stand.

Lyrisch umwarb Brockes die Insekten, die Frösche, die Grashalme und das Stäubchen und als revolutionärer Patriot forderte er am Vorabend des Kantischen ‚Kategorischen Imperatives‘: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (1788) neben der Gewaltenteilung und die Liebe gegenüber dem Vaterland insbesondere „dem gemeinen Wesen redlich zu dienen“ (1724). Aktualisieren wir das letztgenannte mit der heutigen staatsbürgerlichen Pflicht: „Eigentum verpflichtet“ finden wir uns wieder zurückgeworfen mitten rein in unsere Jetztzeit (s.a. nächste Seite: „Münzviertler fragen Politiker“). B.H. Brockes lyrischer wie politischer Blick auf das Wesentliche, das was uns alltäglich umgibt, was wir täglich mit unserem Wissen und unseren Sinnen erkennen, erschauen, sehen, hören und fühlen ist aktueller den je. 300 Jahre werden da schnell zu einem flüchtigen Nichts. Was wir brauchen im Münzviertel und auch anderswo, sind wieder viele weitere B.H. Brockes.

Günter Westphal