Gestern Marktmeile, heute Kunstmeile und morgen mittendrin das Münzviertel

Eine kühne Vision? Gewiss tollkühn für Menschen mit einfachem Gemüt, die die bildende Kunst nur auf das reine Bildermalen beschränken möchten, doch für Menschen, die die bildende Kunst in all ihren medialen Möglichkeiten als eine Vergegenständlichung der Ästhetik denken keine Unmöglichkeit. Denn die professionelle Kunstarbeit beinhaltet stets das Wissen von Ästhetik und diese hält sich frei von jeglicher Bevormundung durch das materiale Diktat. Sie schwebt frei über alle Dinge hinweg einschließlich Raum und Zeit. Erst durch den schöpferischen Akt des Menschen, ob bildender Künstler, Musiker, Architekt, Stadtplaner usw. findet die Ästhetik ihre materielle sowie geistige Verdinglichung. Und das kann sowohl ein gemaltes Bild als auch ein Städtebauen, ein Gedicht, ein Kunstarbeiten im öffentlichen Raum sein, usw.


Luftbild 1921

Doch zurück zum Münzviertel. Auf dem historischen Bild (1925-30) oben erkennen wir leicht die städtebauliche enge Verzahnung zwischen links der Marktmeile und rechts dem Münzviertel. Beide bedingten einander. Die Marktmeile sorgte für Arbeitsplätze und das Münzviertel sorgte für Lageraum, Speditionsgewerbe und Wohnraum. Heute hat der großstädtische Markt die Meile verlassen und beherbergt die Kunstmeile, und die Arbeiter und Speditionen haben das Münzviertel ebenfalls verlassen. Übrig geblieben sind leere Gewerbe- und Büroräume und in den großen Altbauwohnungen leben und arbeiten heute viele Studenten in Wohngemeinschaften unterschiedlichster Fakultäten mit einem hohen Anteil an bildenden Kunststudenten und artverwandten Disziplinen.

Fabian Nitschkowski: „ViertelHaus“ im Rahmen von „Kunst im öffentlichen Raum“: „Rosen in die Münzstraße, Sonnenblumen in die Westerstraße und eine Gärtnerei in die Jugendwerkstatt Rosenallee 1“ 2009

Angelockt werden die Studenten von der unmittelbaren Nachbarschaft der Kunstmeile und so schließt sich der Kreis der historisch engen gewachsenen Verzahnung zwischen der jetzigen Kunstmeile und dem heutigen Münzviertel. Eine fruchtbare Nachbarschaft auf Gegenseitigkeit. Für das um eine neue Identitätsfindung ringende Münzviertel mit seiner übergewichtigen sozialen Randständigkeit ein heilsamer Kräfteimpuls und für die vom alltäglichen Leben abgeschnittene Kunstmeile ein steter frischer Energiequell. Eine professionelle Stadtplanung, die dieses innovative Potential der Verzahnung weder erkennt oder sogar verneint, verdient nicht, progressiv genannt zu werden.

Günter Westphal

Aus: Beilage „Münzviertel“ der Stadtteilzeitung „Der lachender Drache“ (HH-St. Georg), 5/2006