Unterm Pflaster ist der Strand, hieß es bei den 68ern. In Hamburg sind es eher zugeschüttete Fleete, die unter den Straßen liegen. Ginge man aber ins Münzviertel und höbe die Steine in der Rosenallee, kämen nach manchem Graben Lustgärten des Barock darunter hervor. Denn hier, außerhalb des Steintores und am Geestrand zur Hammerbrooker Marsch lagen vor etwa 300 Jahren großartige Gärten Hamburger Großbürger. Und was heute kaum zu ahnen ist, die Rosenallee machte damals ihrem Namen alle Ehre. Wenn es heute wieder heißt: „Rosen in die Münzstraße, Sonnenblumen in die Westerstraße und eine Gärtnerei in die Jugendwerkstadt Rosenallee 11!“, so kann sich die titelgebende Forderung der Ausstellungen und Münzplatzfeste im Juni einer wohlbegründeten Tradition versichern. Und da die Identität eines Ortes unmöglich ohne die überlieferte Geschichte zu bestimmen ist, stößt man zwangsläufig auf den Kaufherren, Senator und Dichter Barthold Hinrich Brockes (1680-1747), einen großen Gartenliebhaber und Vertreter eines aufgeklärten, sozial engagierten Bürgertums. Kein schlechter Ahnherr für Günter Westphal und die Rosenpiraten.
Straßentunnel Amsinckstraße / Nordkanalstraße / Spaldingstraße, Skizze: and8, Mai 2006
Seit 4 Jahren sind die nun im Münzviertel-Projekt aktiv – auch in den kommunalen Gremien. Ist das nicht immer wieder frustrierend? „Wenn ich frustriert bin, hole ich tief Luft und mache weiter“ sagt Günter Westphal. Ja, für so ein Projekt braucht man viel Geduld. Beharrungsenergie ist sein Kapital. Es gibt ja nicht wie in der Kunstproduktion sonst, einen fertigen Zustand. Immer nur Zwischenstände eines endlosen Prozesses. Es ist ein von der künstlerischen Welt in die Realität gewendeter FLUXUS-Begriff: Die sozial determinierte Kunst Günter Westphals bringt die Verhältnisse ins Fließen. Und dieser Fluss ist zu keinem Zeitpunkt exakt beschreibbar. Nichts ist klar abzugrenzen, der Künstler und die Mitstreiter, die Begrifflichkeit und die Ziele, ja die Architektur und der Mikrokosmos des städtischen Quartiers müssen ständig neu erfunden und bestimmt werden. Die künstlerische Energie zeigt sich dann und wann im Detail liebevoller Gestaltungen von Flyern und anderen Kooperationen aller Beteiligten, sie steckt aber auch durchgängig im demokratischen Beharren darauf, dass es notwendig ist, sich selbst zu erfinden und sich nicht mit fremdgesetzten Vorgaben abzufinden.
Bei seiner poetischen Arbeit im sozialen Raum will Günter Westphal dem Anderen und den Anderen Raum lassen. Er macht keine sozialpädagogischen Vorgaben, sondern lebt Selbstverantwortung – und kooperiert mit den anderen ganz im eigenen sozialen Interesse. Das Schlagwort dazu wäre „Respekt“. Respekt für sich und andere. Und anders als 1968 geht es auch nicht mehr um den Anspruch der großen Revolution, des „Wir Wollen Alles Und Zwar Sofort“. Günter Westphal ist klar, dass er nichts revolutionieren wird. Aber für Bewegung kann er sorgen, für kleine Schritte in die richtige Richtung – selbst wenn es noch sieben Jahre bis zum Ziel dauern sollte. Welches Ziel? Dem Ziel, die am Ort angelegten Chancen zu nutzen und aus ein paar abgehängten und marginalisierten Straßen für Arme und Drogensüchtige ein Viertel für Genie und Wahnsinn zu machen. Oder etwas weniger poetisch formuliert, das Münzplatzviertel zu einem lebens- und liebenswerten Innenstadtquartier zu machen. Ein Quartier in der Mitte der Stadt, Bindeglied zwischen City, City-Süd und Hafencity, in dem sich erhaltene Substanz mit Neuem verbindet und in dessen überschaubaren Grenzen ein gemeinschaftlicher Bürgersinn wachsen kann.
Das geht kaum ohne die Frage, wem denn eigentlich der „Öffentliche Raum“ gehört. Den Junkies? Den Yuppies? Den Behörden? Den Bürgern? Den Hunden? Ebenso wichtig ist auch die Frage, ob ein dauernder und sinnloser Leerstand von bebauten und unbebauten Flächen nicht ein Verbrechen am urbanen Gefüge darstellt. Ein Verbrechen, das nur zu heilen wäre, indem diese Brachen und Bauten zur Nutzung durch diejenigen freigegeben werden, die damit mehr anzufangen wissen als die nominellen Eigentümer – das kann ja durchaus auch im Rahmen geltender Gesetze geschehen.
Gewächshäuser Jugendwerkstatt Rosenallee 11, Skizze: and8, Mai 2006
Der Blick in die Geschichte zeigt, dass das Münzviertel in seiner besten Zeit an die Reihe der Markthallen auf der anderen Seite der Bahngleise angebunden war. Sie gaben einem Großteil der Bewohner Arbeit. Wenn diese Markthallen heute in mehrfacher Hinsicht der Kunst dienen, wäre eine Anbindung an die so genannte „Kunstmeile“ ein stimmiges Konzept für die Zukunft. Genau so wie erst der Begriff der Kunstmeile, egal was man denn von ihm halten mag, geeignet war, den Blick für die Perlenkette hamburgischer Kulturinstitutionen entlang des ehemaligen Wallringes zu schärfen, ist es Günter Westphals Definitionsarbeit zu danken, dass das Münzviertel inzwischen überhaupt im Kunstzusammenhang verortet werden kann.
Und da tut sich allmählich so einiges. Das Münzplatzviertel wurde gutachterlich bearbeitet und wird zur Anmeldung als Themengebiet im Senatsprogramm „Aktive Stadtentwicklung 2005 – 2008“ vorbereitet. Der relativ preiswerte Wohnraum im Viertel wird von Studenten und Künstlern geschätzt. Filmemacher, das „KuBaSta, Raum für Kunst/Bauen/Stadtentwicklung“ und die Künstlerinitiative „Planeten & Blumen“ haben sich angesiedelt. Es werden Nachbarschaftsgärten geplant. Etliche Veranstaltungen des „Architektur Sommers 2006“ finden hier statt, der Landschaftsgärtner Ando Yoo hat ein Gestaltungskonzept für den Münzweg erarbeitet und gibt im Sommer ein Seminar für seine Studenten in der Galerie Renate Kammer. Auch andere Architekturseminare haben inzwischen das Viertel zum Thema gemacht.
Parkhaus Rosenallee, Skizze: and8, Mai 2006
Und immer war Günter Westphal im Hintergrund derjenige, der den ersten Anstoß gab. Doch zusätzlich zu dieser Arbeit im sozialen Feld, die kaum anders aushaltbar ist, als durch Verankerung im erweiterten Kunstbegriff, pflegt Günter Westphal noch seinen ganz eigenen Kunstausdruck: Das Photographieren als Fragen, Hören und Antwortgeben zwischen sich und der Umwelt. Wenn er das an den Bahngleisen zwischen Betonwand und Gehwegplatte wachsende allgemeine Ferkelkraut oder das Waldweidenröschen photographiert, umwirbt er diese tapferen kleinen Nischenexistenzen geradezu, bis er sie schließlich in seinen Großphotos dazu bringt, sich in übergroßer Schönheit zu zeigen. „Die Photographie als meine Kunst ruht in sich“ – sagt Günter Westphal – „sie darf sich ruhig der Erklärung entziehen.“
Günter Westphals Kunst ist wahrhaftig keine Produktion für den Kunstmarkt. „Sollte ich als Künstler malen, könnte ich nur Strichmännchen machen“, sagt er. „Dafür habe ich eine Kamera und die Feldarbeit der Quartiersentwicklung“. Für seine Kunst gibt es Parallelen und Ähnlichkeiten: Dan Petermans Recyclinghof in Chicago, Gartenprojekte in New York und in mancher Hinsicht auch das Hamburger Projekt „Park Fiction“, das es ja bis auf die letzte documenta brachte. Und auch die Leitung der kommenden documenta ist an den Prozessen demokratischer künstlerischer Stadtteilarbeit sehr interessiert.
Günter Westphal leistet sich seinen täglichen kleinen Heroismus: Den Kampf des Künstler-Ichs gegen den Rest der Welt. Sie zeigt, wie wirkungsvoll es sein kann, ein Problem beharrlich, ja besessen mit künstlerischen Mitteln zu bearbeiten. „Jeder Mensch ein Künstler“ sagte einst Joseph Beuys, der Verkünder des erweiterten Kunstbegriffs, ohne den Günter Westphals Arbeit kaum denkbar scheint. Wichtig dabei ist, dass nicht gemeint war, jeder werde Künstler etwa als Maler oder Bildhauer. Jeder Mensch ist vielmehr Künstler in der Ausübung des kreativen Potentials in seiner eigenen Arbeit. Das macht nichtprofessionelle und professionelle Künstler zum Partner in kreativen Veränderungsprozessen. „Haben Sie ein Ziel? Arbeiten sie daran? 24 Stunden am Tag? Wenn nein, WARUM NICHT?“ fragte vor einigen Monaten das Wirtschaftsmagazin „brand eins“ auf der Titelseite. Den damit angesprochenen deutschen Mangel an Enthusiasmus muss sich Günter Westphal nicht vorwerfen lassen. Trotz seiner ruhigen Art ist er ein in diesem Sinne Besessener, der die oft unerträgliche Langsamkeit der Veränderungsprozesse nur schwer erträgt. Denn immer wieder stößt sich die Kreativität mit oft kurios unnötigen Normen. Doch in der Reibung daran gibt es wieder etwas Energie für den nächsten Tag, an dem Günter Westphal und seine Mitstreiter unverzagt weitermachen. Unterstützen Sie sie – in Ihrem eigenen Interesse.
Hajo Schiff
1. Juni 2006